Baby mit Schnuller

NEUGEBORENE

Das nahrungsunabhängige Saugbedürfnis

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Von den frühesten Lebenstagen an dient das nahrungsunabhängige Saugbedürfnis bei Babys und Kleinkindern zur unmittelbaren Beruhigung. Wir sprachen mit der MAM-Expertin Dr. Cristina Torres über die möglichen Vorteile und Nutzen dieses Impulses. 

MAM: Dr. Torres, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns zu sprechen. Könnten Sie uns zum Einstieg den Ausdruck „nahrungsunabhängiges Saugbedürfnis“ etwas näher erklären?

Cristina Torres: Wie der Begriff schon sagt, handelt es sich hierbei um ein Saugbedürfnis, welches nicht primär der Nahrungsaufnahme dient. Im Gegensatz zum Füttern hat das nahrungsunabhängige Saugen eine beruhigende Wirkung und wird zudem als Möglichkeit genutzt, die Umgebung zu entdecken, wie z. B., um den Geschmack und die Textur einzelner Gegenstände zu erkunden. Bei Babys bezeichnet es das Saugen ohne Flüssigkeitsaufnahme an der Brust oder aus der Flasche, an einem Schnuller oder an einem in den mittleren Bereich der Zunge gelegten Finger.

MAM: Was ist der Unterschied zwischen nährendem und nahrungsunabhängigem Saugen und woher weiß ich, ob mein Baby Hunger hat oder nur einen Saugimpuls befriedigen möchte?

Cristina Torres: Bei Säuglingen ist das Saugbedürfnis der Schlüssel, um an Nahrung zu gelangen, und erfordert die Fähigkeit Atmung, Saugen und Schlucken zu verbinden. Dies ermöglicht eine koordinierte Nahrungsaufnahme, welche die Hirnnerven, den Hirnstamm und den Kortex mit einbezieht. Im Gegensatz dazu geht es beim nahrungsunabhängigen Saugen hauptsächlich um die Beruhigung und die allgemeine Entspannung. Man vergisst sehr leicht, dass Babys ständig mit Reizen überflutet werden – alles ist neu und aufregend – und das nahrungsunabhängige Saugen ist eine zuverlässige Quelle für Ruhe und Entspannung.

MAM: Gibt es eine gesundheitliche Begründung für das nahrungsunabhängige Saugbedürfnis und welche Rolle spielen Schnuller?

Cristina Torres: Das ist eine interessante Frage. Die Verwendung von Schnullern kann in bestimmten Situationen sinnvoll sein. Es behindert das Stillen nicht, sondern unterstützt es vielmehr. Es trägt zum Beispiel bei niedrigem Geburtsgewicht oder bei Frühgeborenen, bei denen es wichtig ist, den Saugreflex zu stimulieren, dazu bei, die mit dem Stillen zusammenhängenden komplexen körperlichen und mentalen Funktionen zu fördern. Andere Situationen, in denen es hilfreich sein kann, einen Schnuller zu verwenden, ist bei Säuglingen mit dem Risiko einer Hypoglykämie (einem Mangel an Glukose im Blutkreislauf) oder bei Frühgeborenen, die Unterstützung benötigen, um den für ein effizientes Stillen erforderlichen verhaltensneurologischen Entwicklungsstand zu erreichen.

MAM: Was sind mögliche medizinische oder klinische Nutzen von Schnullern?

Cristina Torres: Zu den medizinischen Vorteilen der Verwendung von Schnullern gehören neben dem Beruhigungseffekt (Stress kann direkte gesundheitliche Auswirkungen auf Babys haben), die Förderung der verhaltensneurologischen Entwicklung sowie ein verringertes Risiko für den plötzlichen Kindstod. Während der Saugimpuls bei Säuglingen und Kleinkindern normal ist, sollten sich Eltern bewusst sein, dass dies langfristig, insbesondere über das Kleinkindstadium hinaus, Auswirkungen auf die Zahn- und Kieferentwicklung haben kann. Übermäßiger Gebrauch eines Schnullers, sowohl in Stunden pro Tag als auch in Jahren, kann die sich entwickelnden Gesichts- und Mundstrukturen beeinflussen und Biss- oder Zahnfehlstellungen zur Folge haben.


Mutter und Geschwisterkind kuscheln mit Baby, Baby hat Schnuller im Mund

MAM: Zeigen alle Kinder ein nahrungsunabhängiges Saugbedürfnis?

Cristina Torres: Ja. Das Bedürfnis nach nahrungsunabhängigem Saugen ist allen Kindern gemeinsam, es entwickelt sich schon vor der Geburt und beginnt bereits als Embryo im Mutterleib. Wie es sich nach der Geburt des Kindes äußert, ist jedoch sehr unterschiedlich. Jedes Baby zeigt in dieser Hinsicht ein anderes Verhalten, sowohl in Bezug auf Intensität und Dauer als auch darauf, wie lange die Gewohnheit anhält.

MAM: Wie lässt sich das nahrungsunabhängige Saugbedürfnis am besten befriedigen?

Cristina Torres: Am besten übt man es mit einem Schnuller. Dies hilft, bei Neugeborenen im Krankenhaus Stress und Schmerzen zu reduzieren, und fördert die Gewichtszunahme bei Frühgeborenen sowie die gastrointestinale Entwicklung und das Wachstum bei kleineren, unreiferen Säuglingen. Zudem ermöglicht es einen schnelleren und reibungsloseren Übergang von der Sondenernährung zur oralen Vollernährung. Letzteres kann das Ergebnis einer Verbesserung des Verhaltensstatus sein.

MAM: Wie verhält es sich mit Finger- und Daumenlutschen?

Cristina Torres: Das ist etwas, was alle Kinder tun, und ist ein gutes Argument für die Verwendung eines hochwertigen Schnullers. Es ist weithin anerkannt, dass bei langfristigem Daumen- oder Fingerlutschen ein Risiko von Zahnfehlstellungen besteht. Im Gegensatz zum Sauger eines hochwertigen Schnullers kann die Form und Festigkeit des Daumens eine erhebliche Kraft auf den Gaumen eines Kindes ausüben. Dies hat zur Folge, dass die oberen Frontzähne nach außen in Richtung Lippen und die unteren Frontzähne nach innen in Richtung Zunge gedrückt werden, was zu einem verstärkten Überbiss oder einem vorderen offenen Biss führen kann. Ein weiterer großer Vorteil des Schnullers im Vergleich zum Daumen ist, dass es sehr viel einfacher ist, einem Kind den Schnuller abzugewöhnen.

MAM: Ab welchem Alter nimmt das nahrungsunabhängige Saugbedürfnis ab und woran können Eltern diese Entwicklung erkennen?

Cristina Torres: Das nahrungsunabhängige Saugbedürfnis nimmt ab dem ersten Lebensjahr kontinuierlich ab, sobald das Kind anfängt zu sprechen, zu laufen und mehr feste Nahrung zu essen. Aber auch hier gibt es keine feste Regel. Der Verlauf hängt von der physiologischen und emotionalen Entwicklung des Kindes ab. Die Experten Bishara et al. erforschten das Verhalten in einer Kohorte von Kindern und beobachteten einen Rückgang des Schnullergebrauchs von 40% im ersten Lebensjahr auf weniger als 1% im achten Lebensjahr. Sie stellten außerdem fest, dass das Saugen an den Fingern im gleichen Zeitraum weniger stark abnahm, nämlich von 31% auf 4%, und dass dies ab dem Alter von vier Jahren die bevorzugte Form des nahrungsunabhängigen Saugens war. Da Daumenlutschen ein erhöhtes Risiko für eine gesunde Zahn- und Kieferentwicklung darstellt, sollten Eltern hierauf besonders achten.

MAM: Wann und wie sollten Eltern ihre Kinder den Schnuller abgewöhnen?

Cristina Torres: Die meisten Kinder legen ihre Sauggewohnheiten in ihrem eigenen Tempo ab, andere benötigen dabei die Hilfe ihrer Eltern und eines Kinderzahnarztes. Im Allgemeinen ist es am besten, dem Kind den Schnuller langsam und allmählich abzugewöhnen. Denken Sie daran, dass Kinder eine große Affinität zu dieser Form der sofortigen Beruhigung aufbauen. Besonders wichtig ist es auch, konsequent zu sein, sobald man mit der Entwöhnung begonnen hat. Seien Sie vor allem geduldig und unterstützend. Sie können spüren, wann Ihr Kind bereit ist, mit dem nahrungsunabhängigen Saugen aufzuhören. Seien Sie also aufmerksam, damit Sie wissen, wann es so weit ist. Geben Sie Ihrem Kind liebevolle Unterstützung für die kurze Zeit, die es braucht, um die Angewohnheit zu überwinden.


Dr. Christina Torres, Portraitbild

MAM Expertin

Dr. Cristina Torres 

Dr. Cristina Torres ist Spezialistin für Kinderzahnheilkunde und mitarbeitende Professorin für den Masterstudiengang in Kinderzahnheilkunde an der Universität von Barcelona. Ihr besonderes Interesse gilt der zahnmedizinischen und präventiven Behandlung von Kindern. Sie arbeitet an mehreren Privatkliniken in Barcelona und leitet darüber hinaus Fortbildungskurse in Apotheken für Hebammen, Kinderärzte/innen und Kinderzahnärzte/-innen.

Fotos: Shutterstock

Quellen: Lubbe, W., ten Ham-Baloyi, W. When is the use of pacifiers justifiable in the baby-friendly hospital initiative context? A clinician’s guide. BMC Pregnancy Childbirth 17, 130 (2017). https://doi.org/10.1186/s12884-017-1306-8. 

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