Das Thema der veganen Ernährung, speziell während der Schwangerschaft und Stillzeit, führt immer wieder zu kontroversen Meinungen in den Fachkreisen sowie zu Unsicherheiten bei Schwangeren und Stillenden. Wissenschaftler:innen beschäftigen sich eingehend mit dieser Thematik mit dem Ziel, dadurch mehr Klarheit zu schaffen. Mit diesem Fachartikel möchte ich als vegane Diätologin und Ernährungswissenschaftlerin auf die speziellen Bedürfnisse des Nährstoffbedarfs sowie auf die Herausforderungen in der Beratung von vegan lebenden Schwangeren und Stillenden eingehen und dabei den aktuellen Stand der Wissenschaft miteinbeziehen.
In meinem Berufsalltag erlebe ich häufig Szenarien wie diese: Schwangere Frauen, die sich bereits seit mehreren Jahren vegan ernähren, stoßen mit ihrer Ernährungsweise bei medizinischen Fachkräften oftmals auf Kritik. Sie erhalten den Ratschlag, sich mischköstlich oder zumindest vegetarisch zu ernähren, da nur so alle wichtigen Nährstoffe abgedeckt werden könnten. Ein Gefühl von Unsicherheit und Besorgnis breitet sich in den werdenden Müttern aus, weil sie sich missverstanden und abgewiesen fühlen, gleichzeitig ihrem Kind jedoch nicht schaden wollen. So geschieht es, dass sie entgegen ihrer Überzeugung wieder Käse essen oder ohne Rücksprache mit Fachexpert:innen Nährstoffpräparate einnehmen, die nicht passend auf ihre Bedürfnisse abgestimmt worden sind. Dadurch erhöht sich das Risiko eines Nährstoffmangels, das durch eine adäquate Aufklärung vermeidbar gewesen wäre. Situationen wie diese machen deutlich, dass hier mehr wissenschaftlich fundierte Informationen notwendig sind, um vegan lebenden Frauen in sensiblen Lebensphasen unterstützend zur Seite stehen zu können.
Mit dem Wissen, dass eine gut geplante, vegane Ernährung mit Augenmerk auf die kritischen Nährstoffe in den sensiblen Lebensphasen möglich ist, schaffen wir eine Grundlage in der Beratung jener Personengruppen. Als kritisch gelten Eiweiß, Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren (insbesondere Eicosapentaensäure & Docosahexaensäure), Kalzium, Eisen, Zink, Vitamin B2, Vitamin B12, Jod und Selen. Vitamin B12 ist der kritischste Nährstoff in der veganen Ernährung, da er von Mikroorganismen gebildet wird und in nennenswerten Mengen ausschließlich in tierischen Lebensmitteln vorkommt. Vitamin B12 ist grundlegend wichtig für die Zellteilung, die Blutbildung sowie die Gesunderhaltung unseres Nervensystems. Ein Mangel an Vitamin B12 kann in der Schwangerschaft und Stillzeit zu Neuralrohrdefekten, Präeklampsie oder neurologischen Schädigungen beim Kind führen. Daher ist eine zuverlässige, fachgerechte Supplementierung über Nahrungsergänzungsmittel unerlässlich. 2 Die ÖGKJ empfiehlt Schwangeren und Stillenden, 50-100 Mikrogramm Vitamin B12 täglich zu supplementieren.5
Es gilt einen Weg zu finden, vegan lebende Schwangere und Stillende in ihrer Entscheidung zu respektieren und ihnen mit Fachwissen zur Seite zu stehen, damit Nährstoffeinbußen für Mutter und Kind vermieden werden. Dazu ist es hilfreich, interdisziplinär zu arbeiten und jene Frauen an Ernährungsexpert:innen weiterzuleiten, damit die passende Lebensmittelauswahl, die wichtigen Nährstoffe sowie die nötigen Supplemente in Übereinkunft mit den behandelnden Ärzt:innen besprochen werden können.
Denn die Frage sollte nicht lauten, ob sondern wie eine vegane Ernährung in den sensiblen Lebensphasen so gestaltet werden kann, dass sie die Bedürfnisse aller abdeckt. So stellen wir als medizinische Fachkräfte gemeinsam sicher, dass Fehlinformationen und Mangelzustände vermieden werden und Frauen, die sich auch in diesen besonderen Lebensphasen für eine vegane Ernährung entscheiden, gezielt informiert und bestmöglich beraten werden.
1AND (2016): Vesanto M, Craig W, Levin S. Position of the Academy of Nutrition and Dietetics: Vegetarian Diets. Journal of the Academy of Nutrition and Dietetics 2016; 116 (12): 1970- 1980. doi: 10.1016/j.jand.2016.09.025
2Keller M, Gätjen E. (2017): Vegane Ernährung. Schwangerschaft, Stillzeit und Beikost. Stuttgart: Eugen Ulmer Verlag
3Forschungsinstitut für pflanzenbasierte Ernährung: „Pregnant Veggie Study – Studie zur veganen Ernährung bei Schwangeren in Deutschland“, unter: https://ifpe-giessen.de/preggie-studie/ (abgerufen am 9.5.2023)
4DGE (2016): Richter M, Boeing H, Grünewald-Funk D, Heseker H, Kroke A, Leschik Bonnet E, Oberritter H, Strohm D, Watzl B. Vegan diet. Position of the German Nutrition Society (DGE). Ernahrungsumschau 63(04): 92–102
5ÖGKJ (2018): Plank R. Ernährungskommission der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde. Sicherheit und Risiken vegetarischer und veganer Ernährung in Schwangerschaft, Stillzeit und den ersten Lebensjahren. Monatsschrift Kinderheilkunde 2018; doi: 10.1007/ s00112-018-0554-7.
6DGE (2020): Richter M, Kroke A, Grünewald-Funk D, Heseker H, Vir- mani K, Watzl B. Ergänzung der Position der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. zur veganen Ernährung hinsichtlich Bevölkerungsgruppen mit besonderem Anspruch an die Nährstoffversorgung. Ernaehrungs Umschau 2020; 5. Sonderheft: 64-72.
7Amit M. (2010), Vegetarian diets in children and adolescents. Paediatr Child Health. 2010 May;15(5):303-14.
8Phillips, F. (2005), Vegetarian nutrition. Nutrition Bulletin, 30: 132-167. https://doi.org/10.1111/j.1467-3010.2005.00467.x
9American Dietetic Association; Dietitians of Canada. Position of the American Dietetic Association and Dietitians of Canada: Vegetarian diets. J Am Diet Assoc. 2003 Jun;103(6):748-65. doi: 10.1053/jada.2003.50142.