Scientific article

Was müssen wir über „Ankyloglossie“ oder ein „verkürztes Zungenbändchen“ wissen?

Prof. Ali Mirjalili


Ankyloglossie ist eine klinische Diagnose, bei der davon ausgegangen wird, dass das Zungenbändchen (Frenulum linguae) die Beweglichkeit der Zunge einschränkt. Da jedoch die Beziehung zwischen Struktur und funktioneller Einschränkung noch immer unklar ist, bleibt die Diagnose der Ankyloglossie subjektiv. Ankyloglossie wird mittlerweile in den sozialen Medien breit diskutiert, sodass der Begriff „verkürztes Zungenbändchen“ an Popularität  gewonnen hat, um sowohl den Zustand der eingeschränkten Zungenbeweglichkeit als auch des Frenulum linguae selbst zu beschreiben. Die derzeit gängigen Klassifizierungssysteme für Ankyloglossie verwenden nur ein einziges Merkmal des Zungenbändchens, nämlich die Ansatzhöhe des Zungenbändchens an der ventralen Zungenoberfläche.1,2

Da diese Klassifizierungssysteme alle möglichen morphologischen Variationen des Zungenbändchens umfassen, besteht die Möglichkeit, dass jedes Zungenband einem Ankyloglossie-Grad zugeordnet und somit als „abnormal“ betrachtet werden kann. Die Verwendung dieser Klassifizierungssysteme und die mangelnde Kenntnis über die anatomische Struktur des Zungenbändchens scheinen zur Verwirrung darüber beigetragen zu haben, was eine „normale“ Anatomie des Zungenbändchens überhaupt ist. Da bei fast allen Säuglingen ein Zungenbändchen vorhanden ist3 , sollte das Vorhandensein eines Zungenbändchens an sich nicht als abnormal oder als Nachweis für Ankyloglossie angesehen werden. Außerdem wurde kein direkter Zusammenhang zwischen diesen Klassifizierungen und Stillschwierigkeiten oder den Ergebnissen nach einer Frenotomie nachgewiesen. Dies deutet darauf hin, dass es ein breiteres Spektrum anatomischer Varianten mit Auswirkungen auf die Beweglichkeit und Funktion der Zunge gibt, als nur dieses einzelne Merkmal des Zungenbändchens, das isoliert betrachtet wird.
Die subjektive Natur der Ankyloglossie-Diagnose stellt sowohl für die klinische Praxis als auch für die Forschung ein großes Dilemma dar und kann  zudem bei den Eltern zu Verwirrung  führen. Sie ist zu einer Konfliktquelle innerhalb  Stillberatungsgemeinschaften geworden, da die Ansichten über die Ankyloglossie-Diagnose und die Förderung der einer Frenotomie auseinandergehen. Die dramatisch ansteigende Rate von Diagnosen und begleitenden chirurgischen Eingriffen bei Ankyloglossie, welche durch umfangreiche Prüfungen in einer Reihe von Ländern4-6 festgestellt wurden, lässt befürchten, dass dies einen Trend zur potenziellen Überdiagnose widerspiegelt. Dies hat zur Folge, dass bei einer Reihe von Säuglingen mit normaler Anatomie und Zungenfunktion dennoch ein Eingriff empfohlen wird.
Das weitverbreitete strukturelle Konzept des Frenulum linguae als medianer submuköser Faden, Band oder „Mast“ in der Mittellinie ist7-9 wurde kürzlich durch die Erkenntnis abgelöst, dass das ausgewachsene Zungenbändchen eines Erwachsenen von einer Faszienschicht gebildet wird, die den Mundboden überspannt.10 Die Zungenbewegung erzeugt eine Spannung in der Faszienschicht, die die Faszie und die darüber liegende Mundschleimhaut dynamisch zu einer Mittellinienfalte anhebt, die als Zungenbändchen erkennbar ist. Diese Forschung hat eine strukturelle Erklärung für das Spektrum der Morphologie des Zungenbändchens geliefert. Die Variabilität im relativen Gleiten der Schleimhaut- und Faszienschichten bei der Zungenbewegung, zusammen mit dem darunter liegenden Musculus genioglossus („Kinn-Zungen-Muskel“) verändert die Transparenz, Dicke und Form des Zungenbändchens. Die Forschung zur Anatomie des fötalen und neonatalen Zungenbändchens zeigte  keine Unterschiede zum erwachsenen Zungenbändchen.11 Interessanterweise haben embryologische Studien auch gezeigt, dass sich die Mundschleimhaut und das zugehörige Bindegewebe bis zur 22. Schwangerschaftswoche entwickeln.12

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Zungenbändchen eine dynamische Struktur ist, die durch eine Falte in der Mundbodenfaszie gebildet wird. Die Morphologie des Zungenbändchens variiert erheblich in Bezug auf die  mediane Befestigung der Mundbodenfaszie und die Art und Weise, wie Schleimhaut, Faszie und Musculus genioglossus bei der Zungenbewegung in die Falte des Zungenbändchens gezogen werden. Die Anatomie des Zungenbändchens wurde vor Kurzem klar definiert,  jedoch gibt es immer noch große Wissenslücken, insbesondere was die Korrelation zwischen Struktur und Funktion betrifft. Detailliertere biomechanische Untersuchungen mit einem ganzheitlicheren Ansatz sind erforderlich, um die potenziellen Auswirkungen eines breiten Spektrums von Varianten in der oralen Anatomie von Säuglingen auf die aufgabenspezifischen Zungenfunktion zu verstehen. Solange diese Fragen nicht geklärt sind, empfehle ich dringend einen überlegten klinischen Ansatz, bei dem auch andere mögliche Ursachen für Stillschwierigkeiten (z. B. die Form der Brustwarze, ein hochgewölbter Gaumen usw.) ausgeschlossen werden, bevor ein chirurgischer Eingriff vorgenommen wird.

Prof. Ali Mirjalili

Associate Professor S. Ali Mirjalili, Faculty of Medical Health Science, University of Auckland, Neuseeland
 Spezialist der pädiatrischen klinischen Anatomie

Professor Ali Mirjalili von der Universität Auckland in Neuseeland ist ein Spezialist auf dem Gebiet der pädiatrischen klinischen Anatomie. Ali Mirjalili ist Section Editor des weltberühmten Lehrbuchs „Gray's Anatomy“ und außerdem Herausgeber und Autor des Lehrbuchs „Last's Anatomy“.  

 Ali Mirjalili hat das Zungenbändchen untersucht und die letzten 12 Monate in Graz, Österreich, verbracht, um die Biomechanik der Zunge zu erforschen

1 Kotlow L. 1999. Ankyloglossia (tongue-tie): A diagnostic and treatment quandary. Quintessence Int30: 259–262.  

2 Coryllos E, Watson-Genna C, Salloum A. 2004. Congenital tongue tie and its impact on breastfeeding. Am Acad Pediatr 1–6.  

3 Haham A, Marom R, Mangel L, Botzer E, Dollberg S. 2014. Prevalence of breastfeeding difficulties in newborns with a lingual frenulum: A prospective cohort series. Breastfeed Med 9: 438–441.  

4 Joseph K, Kinniburgh B, Metcalfe A, Razaz N, Sabr Y, Lisonkova S. 2016. Temporal trends in ankyloglossia and frenotomy in British Columbia, Canada, 2004–2013: A population-based study. CMJA Open 4: E33–E40.  

5 Lisonek M, Liu S, Dzakpasu S, Moore AM, Joseph KS, Canadian Perinatal Surveillance System (Public Health Agency of Canada). 2017. Changes in the incidence and surgical treatment of ankyloglossia in Canada. Paediatr Child Health 22: 382–386.  

6 Kapoor V, Douglas P, Hill P, Walsh L, Tennant M. 2018. Frenotomy for tongue-tie in Australian children, 2006–2016: An increasing problem. Med J Austr 208: 88–89. 

Watson-Genna C. 2013. Supporting Sucking Skills in Breastfeeding Infants. Burlington, MA: Jones & Bartlett Learning.  

8 Ghaheri B. 2014. Rethinking tongue tie anatomy: Anterior vs posterior is irrelevant. URL: https://www.drghaheri.com/blog/2014/3/22/rethinking-tongue-tie-anatomy-anterior-vs-posterior-is-irrelevant[accessed Sept. 2018].  

9 Baxter RT. 2018. Tongue-Tied: How a Tiny String Impacts Nursing, Speech, Feeding and More. Pelham, AL: Richard Baxter.  

10 Mills N, Pransky SM, Geddes DT, Mirjalili SA. 2019a. What is a tongue tie? Defining the anatomy of the in-situ lingual frenulum. Clin Anat 1–13.  

11 Mills N, Pransky SM, Geddes DT, Mirjalili SA. 2019b. Defining the anatomy of the neonatal lingual frenulum. Clin Anat 824-35.   

12Winning T, Townsend G. 2000. Oral mucosal embryology and histology. Clin Dermatol 18: 499–511.