Im Interview mit MAM spricht der renommierte Kinderarzt Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche am LKH Leoben (AT), über die kürzlich aktualisierten Leitlinien der WHO zum Thema Stillen.
Kerbl: Die BabyFriendly Hospital Initiative (BFHI) startete 1991. Das Ziel der BFHI war es, Mütter zu motivieren, ihre Neugeborenen und Säuglinge – vor allem in den ersten sechs Monaten – möglichst vollständig mit Muttermilch zu ernähren. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden verschiedene Massnahmen schriftlich festgelegt. Dazu zählte unter anderem das „Verbot“ von Schoppenflaschen und der Verwendung eines Nuggis in den ersten sechs Lebensmonaten des Säuglings. Dies geschah unter der Annahme, dass sowohl die Verwendung einer Schoppenflasche mit Sauger, als auch ein Nuggi das Stillen behindern könnten.
Kerbl: In der neuen Version wurden einige „Verbote“ zurückgenommen. So sieht die überarbeitete BFHI Schoppenflaschen und Nuggis zwar noch immer zurückhaltend, untersagt sie aber nicht mehr grundsätzlich. Schritt 9 der „Zehn Schritte zum erfolgreichen Stillen“ wurde abgeändert auf „Beratung von Müttern zur Verwendung von künstlichen Saugern und den damit verbundenen Risiken “, statt wie bisher „Gestillten Kindern keine künstlichen Sauger geben.“
Kerbl: In den vergangenen Jahren wurden mehrere Studien publiziert, die für die Verwendung von Nuggis und Schoppenflaschen keine wesentlichen Nachteile für das Stillen nachweisen konnten.1 Damit ist für ein solches „Verbot“ keine Evidenz mehr gegeben. Bei Frühgeborenen wurde sogar ein positiver Zusammenhang zwischen Nuggiverwendung und verkürzter Dauer des Klinikaufenthalts festgestellt. Zusätzlich sollte man auch erwähnen, dass Nuggis als Vorbeugung gegen den Plötzlichen Kindstod empfohlen werden.
Kerbl: Vor allem stellen die „Zehn Schritte zum erfolgreichen Stillen“ verstärkt auf die individuellen „Skills“ der Stillberaterinnen ab. Diese werden als wichtiger erachtet als das strikte Vorgehen nach einem bestimmten Ausbildungscurriculum, weil den Beratenden dadurch mehr Möglichkeiten für die erfolgreiche Umsetzung ihrer Arbeit offenstehen.
Kerbl: Diese neue Version ist eine sinnvolle Modifikation der Richtlinie. Nun wurden vormals „militant“ propagierte Ansichten evidenzbasiert relativiert. „Counseling instead of prohibiting“ – also etwa „Beraten statt verbieten“ berücksichtigt auch mögliche Bedürfnisse von Neugeborenen und Säuglingen. Dabei kann es sich auch um medizinische Bedürfnisse handeln, wie z.B. unzureichende Milchbildung. Ausserdem wird die individuelle Entscheidungsfähigkeit junger Eltern verstärkt berücksichtigt. Das wichtigste Ziel bleibt auch in der überarbeiteten Version der BFHI das Erreichen einer möglichst hohen Stillrate und die Verwendung von Muttermilch. Dieses Ziel soll flächendeckend umgesetzt werden. Denn laut WHO könnte generelles Stillen in den ersten beiden Lebensjahren weltweit immerhin mehr als 800.000 Leben jährlich retten.2
1Jaafar, S. H., Ho, J. J., Jahanfar, S., & Angolkar, M. (2016). Effect of restricted pacifier use in breastfeeding term infants for increasing duration of breastfeeding. The Cochrane Library.
2Source: www.who.int/features/factfiles/breastfeeding/en/