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„Saugverwirrung“ - gibt es denn sowas?

Interview mit Prof. Dr. Reinhold Kerbl


Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche, LKH Hochsteiermark, Standort Leoben, Leoben, Österreich

Was versteht man unter „Saugverwirrung“, und in welchem Alter tritt sie üblicherweise auf?

Kerbl: Unter Saugverwirrung versteht man v.a. in der Laienkommunikation zumeist die Beeinträchtigung des Stillens in den ersten Lebensmonaten durch die Verwendung von Babyflaschen oder Beruhigungsschnullern. Dies entspricht allerdings nicht der ursprünglichen Definition aus dem Jahr 1995 durch die Kinderärztin und Stillexpertin Marianne Neifert. Sie beschrieb einen Typ A (Unfähigkeit den Mund richtig zu formen um die Brustwarze zu umfassen) und einen Typ B (Wegdrehen des Säuglings von der Mutterbrust und somit „Verweigerung" des Stillens). Für beide Formen wurde immer wieder ein Zusammenhang mit Flaschenfütterung und Beruhigungsschnullern suspiziert, wissenschaftlich wurde derartiges aber nie belegt.

Ist dieses Phänomen ein kinderärztliches Thema?

Kerbl: Neben Hebammen, Stillberaterinnen und Kinderkrankenschwestern sind natürlich auch Pädiater - v.a. im Rahmen der Mutterkindpass-Untersuchungen - mit diesem Thema konfrontiert. Weil Eltern natürlich ihre Sorgen berichten, wenn das Stillen nicht zufriedenstellend funktioniert. 

Wie erkennen junge Eltern, dass eine Saugverwirrung vorliegt?

Kerbl: Eltern erkennen die Saugverwirrung daran, dass das Baby den Mund entweder nicht adäquat formen kann oder sich eben von der Mutterbrust wegdreht. Vereinfacht gesagt: Das Stillen „funktioniert nicht". Hilfe bieten dann v.a. Hebammen, Stillambulanzen, Stillberaterinnen, oder eben der Kinderarzt.

Was kann der Kinderarzt tun, um einer Saugverwirrung vorzubeugen?

Kerbl: Die echte Saugverwirrung ist insgesamt relativ selten. Daher muss dieses Problem auch nicht angesprochen werden, solange es nicht existiert. Der Kinderarzt soll im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen die Mütter allgemein dazu ermuntern, ihre Kinder möglichst lange zu stillen. Wenn nötig kann er ein paar Tipps zum richtigen und komfortablen Stillen geben. Weil Mutter und Kind das Stillen genießen sollen! Die Beratung soll ausgewogen und sachlich erfolgen, ohne den Eltern Angst zu machen oder sie bezüglich des Stillens unter Druck zu setzen.

Der Schnuller wird in manchen Fällen für Probleme verantwortlich gemacht. Wie beurteilen Sie den Gebrauch eines Schnullers beim reifen Baby?

Kerbl: Flaschenfütterung und Schnullerverwendung wurden oft mit der (sogenannten) Saugverwirrung in Verbindung gebracht, und von deren Verwendung wurde daher oft auch militant abgeraten. Allerdings gibt es keine wissenschaftlichen Nachweise, dass Beruhigungsschnuller Stillfrequenz und Stilldauer negativ beeinflussen. Persönlich halte ich Beruhigungsschnuller für eine gute Möglichkeit, Säuglinge zur Ruhe kommen zu lassen und ihr physiologisches Saugbedürfnis zu befriedigen.

Warum raten dann WHO und die - Baby Friendly Hospital Initiative von der Schnullerverwendung ab?

Kerbl: Diese Empfehlung beruhte eben auf der Annahme, dass sich die Schnullerverwendung negativ auf das Stillen auswirkt. Mittlerweile gibt es aber sehr gute Studien, die diese Annahme widerlegen. Die Baby Friendly Hospital Initiative hat auf diese Erkenntnisse auch sprechend reagiert und das frühere „Verbot" durch adäquate Beratung („counseling instead of banning") ersetzt.1

Auf dem Markt finden wir Schuller verschiedener Marken, die für Frühgeborene angeboten werden. Welche Vorteile hat es, Frühgeborenen einen Schnuller anzubieten? 

Kerbl: Frühgeborenenschnuller sind an sich ein Medizinprodukt und man kann sie irgendwie wie ein Medikament ansehen, weil sie für Frühgeborene mehrere Vorteile haben. Einerseits tragen sie zur Schmerzlinderung bei Eingriffen und anderen Interventionen bei, sie ermöglichen die Beruhigung der Frühgeborenen unter oft schwierigen Bedingungen (z. B. auf einer neonatologischen Intensivstation), und sie können - auch dann wenn die Neugeborenen noch sondiert werden müssen - die Gewichtszunahme beschleunigen und dadurch den Intensivaufenthalt verkürzen.

Der Schnuller beschäftigt Ärzte verschiedener Fachrichtungen - warum?

Kerbl: Neben den Kinder- und Jugendärzten sind es insbesondere die Zahnärzte, die mit der Schnullerfrage konfrontiert sind. Dies deshalb, weil lange dauernde oder unsachgemäße Verwendung eines Beruhigungsschnullers zu Zahnfehlstellungen wie Kreuzbiss oder Überbiss führen können. Beruhigungsschnuller sollen daher wirklich nur zur Beruhigung eingesetzt werden, und spätestens im dritten Lebensjahr sollte eine Schnullerentwöhnung erfolgen.

Sind Kinderärzte in Österreich fit, junge Eltern in der Frage „Schnuller— ja oder nein?" ausreichend gut beraten zu können?

Kerbl: Ich glaube, dass Österreichs Kinder- und Jugendärzte sehr gut über adäquaten Schnullergebrauch informiert sind und Nutzen und mögliche Risiken richtig einschätzen. Insbesondere wissen Österreichs Pädiater auch über die mögliche protektive Wirkung im Hinblick auf den plötzlichen Säuglingstod (SIDS) Bescheid. Und nach meiner Erfahrung wissen sie auch die „Saugverwirrung“ richtig einzuordnen. 


Prof. Dr. Reinhold Kerbl

Pädiater
Prof. Dr. Reinhold Kerbl ist Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche am LKH Leoben (AT), und einer der führenden deutschsprachigen Experten im Bereich Pädiatrie. Prof. Kerbl hat mehrere Auszeichnungen für seine Arbeiten erhalten. 

1Kerbl R. (2019) Counseling instead of prohibiting: The new Baby Friendly Hospital Initiative. Monatsschr Kinderheilkd 167:89

First publication: Paediatr. Paedolog. 2019;54:238–239; www.springermedizin.at/saugverwirrung-gibt-es-denn-sowas/17286296 © Springer-Verlag GmbH Austria, part of Springer Nature 2019.